Frage

Wäre der Krieg zu verhindern gewesen?

 
 

Der Erste Weltkrieg kommt nicht unerwartet. Dennoch wäre er zweifellos bis zur deutschen Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 zu verhindern gewesen. Dass dies nicht geschieht, liegt vor allem an den weitverbreiteten Bedrohungs- und Untergangs-ängsten in den europäischen Staaten.

Viele Staatenlenker und Militärs sind 1914 immer noch der Auffassung, dass der Krieg "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" sei - so die berühmte Formel des Militärtheoretikers Carl von Clausewitz. Sie sind tatsächlich überzeugt, eine politisch verfahrene Situation durch einen Krieg bereinigen zu können. Die Deutschen glauben, sich durch einen kriegerischen Befreiungsschlag vor allem gegen Russland und Frankreich vom Druck der "Einkreisung" durch die anderen Mächte lösen zu können. Sie fühlen sich durch die Bündnisse der anderen europäischen Mächte - Großbritannien, Russland, Frankreich - zutiefst bedroht und zudem in der eigenen kolonialen Ausweitung behindert. Die Franzosen wiederum fühlen sich durch Deutschlands koloniale Begehrlichkeiten und das Aufrüstungsprogramm ebenfalls stark bedroht und halten deshalb unbedingt zu ihrem Bündnispartner Russland.

Kaiser Wilhelm II. und König Georg V. von Großbritannien in einer Kutsche
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. (rechts) und König Georg V. von Großbritannien im Jahr 1913: Obwohl die Monarchen Vetter sind, befinden sich Deutschland und Großbritannien ein Jahr später im Krieg gegeneinander.
© LOOKS/Library of Congress

Russland ist eine rapide aufstrebende Weltmacht, die sich traditionell dem Schutz der Slawen in den kleinen Balkannationen verpflichtet fühlt. Die Balkanstaaten ihrerseits haben ein problematisches Verhältnis zum Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Vor allem das stark aufstrebende Serbien als Nachbar der Donaumonarchie macht den Österreichern große Sorgen, weil in Teilen der Monarchie, vor allem in Bosnien und der Herzegowina, sehr viele Menschen mit serbischen Wurzeln leben und auf ein Großserbien drängen.

Die deutsche Flotte vor Kiel
Die deutsche Flotte vor Kiel: Die Aufrüstungsprogramme aller europäischen Großmächte nähren die Bedrohungs- und Untergangsängste vor dem Ersten Weltkrieg.
© Kulturhistorisches Museum Rostock

Insgesamt gibt es vor 1914 also auf allen Seiten eine Vielzahl von Bedrohungs- und Untergangsängsten, woraus sich regelrechte Kriegspsychosen entwickeln. Etwa im Jahr 1913, als sich Franzosen und Deutsche ein unerbittliches Wettrüsten liefern, begleitet von riesigem Pressewirbel. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, einen Überfall auf den Nachbarn zu planen. Ähnlich verläuft der Streit zwischen Russland und Deutschland im Frühjahr 1914, als ebenfalls ein Krieg bedrohlich nah zu sein scheint. All diese Differenzen hätten auf diplomatischem Wege ausräumt werden können. Dies wäre sicherlich auch geschehen, hätten die Regierenden geahnt, wie rasend sich der geplante Befreiungsschlag zu einem alles verschlingenden Ungeheuer entwickeln würde.

Der österreichische Thronfolger und seine Frau verlassen ein Gebäude
Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau wenige Augenblicke vor ihrer Ermordung am 28. Juni 1914 in Sarajewo
© dpa/picture-alliance

So jedoch wird die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin am 28. Juni 1914 in Sarajewo zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Österreich-Ungarn will diese Gelegenheit nutzen, mit Serbien aufzuräumen, und sein Verbündeter Deutschland sieht darin eine gute Möglichkeit herauszufinden, ob Russland für seinen Schützling Serbien wirklich Krieg beginnen würde. Und wenn ja, so die Meinung der führenden Militärs und Politiker, dann "lieber jetzt als später". Niemand ahnt, dass es für die Großreiche Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland nach diesem Krieg kein "Später" geben wird.