Frage

Warum ist der Krieg so brutal?

 
 

Kriege sind immer brutal und der Kampf um Leben und Tod mit Keule, Messer oder Schwert, Mann gegen Mann und Gruppe gegen Gruppe hat immer den Charakter äußerster Brutalität. Mit dem massenhaften Sterben, dem Einsatz neuer Vernichtungswaffen und der Überhöhung des Konflikts zum "heiligen Kampf" entfaltet der Erste Weltkrieg aber eine neue und bisher unbekannte Zerstörungskraft.

Zunächst wird die Kriegspropaganda immer "totaler", der Feind wird zum Barbaren stilisiert, dem nichts auf der Welt heilig ist. Das Bewusstsein, die Freiheit und die Zivilisation gegen den barbarischen Deutschen oder "Boche" zu verteidigen, motiviert die Soldaten auf französischer Seite stets neu zum Kampf und bestimmt auch die Anstrengungen der sogenannten Heimatfront bei der Produktion von Hilfsmitteln aller Art für diesen Verteidigungskrieg. Der Krieg wird oft als "heiliger Krieg" aufgefasst und der Gegner dadurch zum Teufel gemacht.

Eine alliierte Karikatur aus der Zeit nach 1917. Eine Frau mit einem Schild kämpft gegen ein Monster mit Pickelhaube
Eine alliierte Karikatur aus dem Ersten Weltkrieg (nach 1917): Der Krieg gegen Deutschland wird als Kampf der Zivilisation gegen ein Ungeheuer dargestellt.
© LOOKS/Library of Congress

Die neue Brutalität des Ersten Weltkrieges liegt in der Massen-haftigkeit des Todes, der in den meisten Fällen nicht aus dem Schützengraben, sondern aus weiter Ferne und vollständig anonym kommt. Geschätzt mehr als 70 Prozent der gefallenen Soldaten aller Seiten sterben durch den Fernbeschuss der Artillerie. Diejenigen, die den Tod bringen, sehen ihren Feind gar nicht mehr. Das anonymisierte Töten kann zu einer Abstumpfung führen, aber auch zu Exzessen des Vernichten-Wollens. Die Soldaten und die meisten Generäle wissen bis Kriegsende nichts Konkretes über die Millionen-zahlen an Toten und Verstümmelten. Aber jeder erfährt, was es heißt, wenn eine Kompanie von einer Sollstärke von 250 Mann auf 50 oder 40 Mann schmilzt oder, wie es damals heißt, "zur Schlacke verbrannt" wird. Der Mensch wird im industrialisierten Massenkrieg zum Material degradiert.

Tote Soldaten in der Nähe von Ypern
Tote Soldaten in der Nähe von Ypern in Belgien
© LOOKSfilm

Hierin liegt die schlimmste Brutalität des Ersten Weltkrieges. Dieser Realität und Erfahrung entspringen das emotionslose Töten auf Distanz und eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem gewaltsamen Tod überhaupt. Dazu gehört auch das Kalkül des schlichten Vernichtens großer Massen an Menschen, wie es im Gaskrieg ab 1915 bedenkenlos eingeübt wird. Jetzt sprechen Generäle vom "Gasieren" des Feindes, wobei der Gaskrieg zwar Horror-vorstellungen erweckt, von 1915 bis 1918 aber in Hinblick auf die Opferzahlen marginal bleibt. Aber jetzt wissen die Beteiligten, dass man mit chemischen Waffen unendlich viele Menschen ausrotten kann - weshalb der chemische Krieg auch im Zweiten Weltkrieg an den Fronten eine Ausnahme bleibt. "Gasiert" werden dann aber bedenkenlos Juden und andere "innere Feinde" - dies sicherlich auch eine Folge des Großen Krieges.

Französische Soldaten neben einem riesigen Geschütz
Französische Soldaten neben einem riesigen Geschütz bei den Kämpfen in den Argonnen
© LOOKSfilm

Gradmesser für die Brutalität des Krieges ist aber nicht nur der Kampf, sondern auch der Umgang mit dem verwundeten oder geschlagenen Feind in und nach dem Kampf. Im Ersten Weltkrieg werden auch durchaus Teile der Haager Landkriegsordnungen von 1899 und 1907 beachtet, etwa im Umgang mit Kriegsgefangenen oder - bei aller Härte – im Umgang mit der Zivilbevölkerung im kriegsbesetzten Gebiet. Zivilisten sind zumeist kein Freiwild und auch nicht wie die Soldaten der körperlichen Vernichtung ausgesetzt. Insgesamt hat sich der Erste Weltkrieg, der als recht traditioneller Konflikt beginnt, im Laufe der viereinhalb Jahre aber zu einer anonymisierten Tötungsmaschinerie entwickelt. Er war ein ganz anderer Krieg geworden – auf dem Wege zum totalen Krieg.